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Sozialer Kampf und Predigt
insbesondere im Spiegel der Evangelischen Kirchenzeitung (1827 - 1848/49)
und von Predigten der Berliner Hofprediger

(hier als pdf-Datei)

Humboldt-Universität zu Berlin, vorgelegt im August 1990, verteidigt am 27.02.1991

Die hier angegebenen Seitenzahlen entsprechen denen in der Druckausgabe des Frommverlags 2013

ISBN-13: 9783841603395

Sind Prediger Ideologen der herrschenden Klasse? In Auseinandersetzung mit diesem marxistischen Vorwurf wurden Berliner Predigten von Hofpredigern, Sammelbände von Predigten zu besonderen gesellschaftlichen Ereignissen (Cholera-Epidemie, Revolution 1848), die Evangelische Kirchenzeitung und z.B. auch das Abstimmungsverhalten von Geistlichen in der Preußischen Nationalversammlung befragt. Die Verfasserin führte damit die in ihrer Dissertation A begonnene Analyse von Predigten der Berliner Hofprediger für die Zeit von der Reformation bis zum Ende der Aufklärung im Blick auf Weltanschauung und Ideologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fort. 'Das Hemd ist näher als der Rock.' Der Konkurrenzkampf innerhalb der Berufsgruppe prägte den Kampf um allgemeine Berufsinteressen, um die Durchsetzung bürgerlicher Rechte sowie die sozialen Bündnisse mit anderen. Noch heute gilt: Nur scheinbar sind wir über das 19. Jahrhundert hinaus. In Wirklichkeit sind wir mit jenen gleichzeitig. (so K. G. Steck 1969) - Die Klarheit, mit der damals Probleme angesprochen wurden, die wir bis heute haben, hilft das eigene Engagement aus der Distanz kritisch einzuschätzen. 


 

Aus Anlass des Jubiläums von 140 Jahren Märzrevolution schrieb ich folgende Artikel:

- Kirche in der Revolution - Berlin vor 140 Jahren, in Zeichen der Zeit, Heft 2, 1989, S. 34-39

- Seit 140 Jahren: Friedhof der Märzgefallenen, in: Die Kirche. Evangelische Wochenzeitung Nr. 12, vom 30. März 1988, S. 2


 

Thesen zur Dissertation:

„Sozialer Kampf und Predigt“

insbesondere im Spiegel der Evangelischen Kirchenzeitung (1827 bis 1848/49)
und von Predigten der Berliner Hofprediger

 

Vorgelegt von:
Dr. theol. Katharina-Elisabeth Dang 

Verteidigt im Mai 1991
an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universtät zu Berlin

 

  1. Die Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus hat sich durch die Ereignisse der letzten Zeit für die Wissenschaft nicht erübrigt. So manche These, die ihren Platz im marxistischen Denksystem gefunden hatte und die durch deren Theoretiker propagiert wurde, ist Teil heute allgemein verbreiteter Vorstellungen geworden. Dazu gehören die Thesen von der Kirche des vorigen Jahrhunderts als einer systemstabilisierenden, reaktionären Institution, von dem Bündnis von „Thron und Altar“, von der Kirche als einem ideologischen Propagandaorgan der herrschenden Klasse. Die vorliegende Arbeit will diese Thesen aufgrund von Quellenstudien kritisch hinterfragen.

  2. Die Predigten der Berliner Hofprediger schienen am ehesten geeignet zu sein, diese Thesen zu überprüfen. Weitere Quer- und Längsschnitte durch die Berliner Predigtgeschichte sollten die Ergebnisse überprüfen. Es wurde gefragt nach den in den Predigten bekämpften Gegnern, nach Äußerungen zu politischen Ereignissen und nach der in den Predigten vertretenen Weltanschauung. Das Ergebnis dieser Untersuchung fiel im Vergleich zu früheren Zeiten, besonders in Bezug auf die Gegner so mager aus, dass die Evangelische Kirchenzeitung als die den Hofpredigern nahestehende Zeitung ebenfalls in diesem Sinne ausgewertet wurde, dazu weitere Quellen, die in der Lage sind, Auskunft über die sozialen Kämpfe der Pfarrerschaft zu geben.

  3. Es zeigte sich, dass die Hauptgegner theologische Konkurrenten in der eigenen Kirche waren und Gegner in der Regel aus theologischen Gründen bekämpft wurden. Dabei ging es um die Frage, wie sich die Theologie gegenüber der neu entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, der verändernden Lebensweise und Weltanschauung, der Entwicklung der Naturwissenschaft und Forschung und deren Auswirkungen auf das Gemeindeleben und die Frömmigkeit der Menschen verhalten solle. Theologische Rationalisten und Neu-Orthodoxe gaben darauf einander ausschließende Antworten, und so entbrannte zwischen diesen Parteien ein Kampf um die Herrschaft in der Kirche.

  4. In diesem Kampf suchten beide Parteien u. a. auch Einfluss auf den König als das Oberhaupt der Kirche zu erlangen. Die persönliche Prägung und Erfahrungen des Königs spielten eine Rolle für den Verlauf und den Ausgang dieser Kämpfe, d. h. diese waren nicht einfach durch objektiv zu definierende Interessen determiniert.
    Diese Kämpfe spalteten die Kirche faktisch weitgehend. Nur durch die einheitliche Verwaltung der Kirche durch den Staat und seine Organe und das bischöfliche Amt des Königs wurde die Kirche noch äußerlich zusammengehalten.

  5. Im Blick auf die sehr unterschiedliche Haltung von Predigern zu den großen sozialen Kämpfen in der Gesellschaft ihrer Zeit, besonders in der 1848er Revolution, verbietet es sich, von einer generellen systemstabilisierenden, reaktionären Haltung von Predigern zu reden.
  • 5.1 Die Ablehnung der Kämpfe um den 18./19. März 1848 und von Revolutionen überhaupt durch Prediger und insbesondere durch die EKZ war in erster Linie theologisch bedingt und hing zusammen mit dem Festhalten an Röm. 13, 1 ff. im Rahmen der Verteidigung der Heiligen Schrift als ganzes gegenüber moderner Forschung und bürgerlichen Alltagsbewusstseins.

  • 5.2 Die bisher übliche Einschätzung der EKZ 1848 als reaktionär beachtet Folgendes u. a. nicht:

  • a) In einer ganzen Reihe von Artikeln im Jahrgang 1848 wird davon ausgegangen, dass die Revolution nun einmal passiert sei und man nun nutzen solle, was die veränderte Gesellschaft an neuen Möglichkeiten bot.

  • b) Der kompromisslose Kampf der EKZ gegen das Schwerinsche Kultusministerium wurde als ein genereller Kampf gegen die neue Zeit missverstanden. Gerade dieser kirchenparteipolitische Kampf war das verbindende Interesse der politisch auseinandertreibenden Artikel in der EKZ. So lässt sich dieser theologische Kampf sozial viel schwerer orten.

  • c) Man suchte nur nach Äußerungen der EKZ und von Predigern zu den politischen Ereignissen, fragte aber nicht danach, welches Gewicht diese in den sich abspielenden großen politischen Auseinandersetzungen hatten. Für den König und für Ludwig von Gerlach als einem Führer der adligen Reaktion war die EKZ politisch so bedeutungslos, dass sie in den Briefen dieser Zeit, in denen sie sich über den zu führenden Kampf verständigten, keine Erwähnung findet.

  • d) Man kannte Hengstenbergs Unsicherheit und sein Schwanken in Bezug auf die Einschätzung der um den 18./19. März 1848 eingetretenen Lage nicht, welche seinen Briefen an Ludwig von Gerlach zu entnehmen sind.

  • e) Man glaubte den späteren Urteilen Hengstenbergs und anderer Theologen, dass ihre Haltung in der Revolution maßgeblich zu deren Scheitern beigetragen hätte. Nach dem Scheitern der Revolution hatten jene Männer ein soziales Interesse daran, für reaktionär zu gelten, da sie anderenfalls mit Kritik und Strafen zu rechnen hatten. So versuchten sie, wie viele andere in dieser Zeit, die Spuren dessen, was sie tatsächlich in den Tagen der Revolution gesagt und getan hatten, zu verwischen; oder sie harmonisierten im Rückblick nach vielen Jahren unbewusst im Sinne der nun eingetretenen Entwicklung die eigenen Erinnerungen.
    Entsprechendes gilt für die untersuchten Predigten dieser Zeit.

6. Das, wofür sich die Prediger aktiv einsetzten, waren die eigenen Berufsinteressen. Die gemeinsamen Berufsinteressen aller Prediger boten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts insofern kein einheitliches Bild, als es einerseits um die Verteidigung alter feudaler Rechte ging, andererseits um den Erwerb neuer Freiheiten. Beides musste in der konkreten Situation gegeneinander ausgewogen, in seiner Rückwirkung auf das Verhältnis des Pfarrers zu seiner Gemeinde und hinsichtlich seines Einflusses auf den Streit der verschiedenen theologischen Richtungen abgeschätzt werden. Je nachdem, wie in der konkreten Frage die Prioritäten gesetzt wurden, fielen die Antworten verschieden aus, und näherte sich der Prediger mit seinen Forderungen anderen Berufen, sozialen Schichten oder Klassen an bzw. wurde zu deren sozialem Gegenspieler.
 
7. Die Predigten der Berliner Prediger dieser Zeit weisen eine Fülle von weltanschaulichen Vorstellungen auf. Zum Teil sind sie denen der Orthodoxie des 16. und 17. Jahrhunderts, zum Teil denen der Aufklärung ähnlich. Sie sind zum Teil widersprüchlich und auswechselbar. Dies kann in einer einzelnen Predigt geschehen oder während einer persönlichen Entwicklung von Jahrzehnten, ohne dass dies als ein Bruch empfunden wurde. Dies war möglich, weil sich mit dem Ende der Aufklärungszeit der Schwerpunkt der Alltagsweltanschauung vom einzelnen Menschen, seinem Denken, seiner Natur und seiner Zukunft hin zu Gesellschafts- und Menschheitsfragen verlagerte. Das Bild vom einzelnen Menschen verlor so an Verbindlichkeit, darum wurden unterschiedliche Vorstellungen auf diesem Gebiet möglich und von der Allgemeinheit geduldet.
 
8. Eine relative Eigenständigkeit der Predigt im Vergleich zu den allgemeinen geistigen Zeitströmungen zeigt sich darin, dass für die Predigt das Bild vom einzelnen Menschen weiterhin die wichtigste weltanschauliche Vorstellung blieb. Die nun mögliche und herrschende weltanschauliche Breite und Widersprüchlichkeit hatte zur Folge, dass weltanschauliche Vorstellungen schlechter die Funktion eines Vermittlers, Erklärers und Anknüpfungspunktes für die biblische Botschaft sein konnten. Dies führte zunächst zu einem verstärkten Rückgriff auf biblische Sprache und Vorstellungen, wodurch die Predigten dieser Jahre so zeitlos ansprechend sind. Dann kam es aber auch zur Verwendung von Beispielen aus der Natur, Geschichte und Gesellschaft, die durch Psychologisierung und Übertragung auf das Verhältnis des Menschen zu Gott problematische Folgen haben konnten, und zur Verwendung von Zeugnissen persönlichen Erlebens.
 
9. In der EKZ wurde diese Problematik im Wesen erkannt und systematisch am Aufbau einer christlichen Weltanschauung gearbeitet, ohne dass sie damit an der Vielfalt und der damit verbundenen Unsicherheit in Erkenntnisprozessen etwas ändern und sich so durchsetzen konnte, dass dies die Predigten jener Jahre geprägt hätte.
 
10. Die lange Friedenszeit, der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt und wirtschaftliche Aufschwung dieser Jahre ließ einen Zukunftsoptimismus entstehen und in Bezug auf die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft herrschen, dem auch die Prediger und die EKZ erlagen. Entsprechend ihrer von biblischer Sprache und Vorstellungswelt geprägten Sprache und ihrer Berufsspezifik wandelte sich dieser allgemeine Zukunftsoptimismus ihrer Zeit bei ihnen zu einer Erwartung der Verwirklichung des Reiches Gottes in nicht allzu ferner Zukunft. Sich selbst verstand man als Werkzeug Gottes für die Erreichung dieses Ziels. Das erfüllte jene Menschen mit unglaublicher Energie, zugunsten dieses Ziels tätig und in der Gesellschaft aktiv zu werden. Es galt, durch die Besserung jedes einzelnen Menschen im Sinne der christlichen Ethik die Gesellschaft als Ganzes diesem Ziel näherzubringen.
 
10. Da die kleine Zahl Neu-Orthodoxer dies nicht allein erreichen konnte, versuchte sie, den Staat dafür mitverantwortlich zu machen und entsprechenden Einfluss auf den Staat, vor allem in Fragen der Ehe- und Strafgesetzgebung und in Schulfragen, zu erlangen. Damit wurden sie aber zu Konkurrenten anderer Teile des Bürgertums, die mit ähnlicher Energie ihren Zukunftsoptimismus in die Tat umzusetzen begannen. Man bekämpfte sich aufs Heftigste. Mit den Anfängen des Einflusses kommunistischer Ideen, die zuerst einmal vom Bürgertum wohlwollend diskutiert wurden, trat ein dritter Konkurrent auf das Kampffeld, der von den Vertretern der Neu-Orthodoxie als ein solcher erkannt und bekämpft wurde.
 
11. Diese versuchte Indienstnahme des Staates zugunsten der Verwirklichung des eigenen Gesellschafts- und Zukunftsbildes kam dem feudal-absolutistischen Selbstverständnis des Königs Friedrich Wilhelm IV. nahe. Er ging in Bereichen darauf ein, die für ihn sozial relativ belanglos waren. Dafür wurde er in seinem Selbstverständnis als absolut herrschender König gestärkt. Das ermöglichte ihm, in einer Zeit, deren soziale Kräfteverhältnisse diese Herrschaftsform als überholt negierten, trotzdem entsprechend weiter zu regieren. In den Augen der Öffentlichkeit kompromittierte ihn dies; und es erschwerte seine Herrschaft, wenn er tatsächlich Entscheidungen im Sinne der Neu-Orthodoxen traf.
 
12. Diese Zusammenarbeit von Neu-Orthodoxen, zumeist Laientheologen, und dem König aber nun als „Bündnis von Thron und Altar“ zu bezeichnen, wird dem Sachverhalt nicht gerecht, da es sich, wie gesagt, um eine Minderheit in der Kirche und Pfarrerschaft handelte. Diese Zusammenarbeit wurde ermöglicht durch den weltanschaulichen Optimismus in seiner neuorthodox-theologischen Form der Reich-Gottes-Erwartung. Sie war nicht direkt von den Berufsinteressen und der Berufsarbeit der Pfarrer ableitbar. So verschwendeten beteiligte Pfarrer auch trotz aller Worte auf den Kampf um die tatsächliche Durchsetzung dieser Ideen nur so viel Energie, wie er auch an sozialem Nutzen für die Prediger einzubringen versprach.
 
13. Laientheologen, wie Ludwig und Leopold von Gerlach, H. Leo, F. J. Stahl und V. A. Huber, die jene Zukunfts- und Gesellschaftsvorstellung theoretisch ausarbeiteten und in der Öffentlichkeit propagierten, brachten aufgrund ihres eigentlichen Berufes und ihrer z. T. anderen sozialen Stellung weitere soziale und Berufsinteressen ins Spiel. Ihre Vorstellungen und ihre Bemühungen um deren praktische Durchsetzung wurden von ihren Gegnern u. a. mit der Parole „Thron und Altar“ bekämpft und so als mittelalterlich diskreditiert. Dies erlaubt es aber nicht, darin eine Aussage über den Zustand und über soziale Bündnisse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Preußen zu sehen.