Januar 1989 – Der Nachbar kommt zurück und feiert -
Lieber Professor Fink, eines der größten Wunder in meinem Leben hat mit Ihnen zu tun. Ich habe das alles ca. 1 bis 1,5 Jahre später aufgeschrieben und nun fast 30 Jahre nicht wieder durchgelesen. Ich wollte damals das Erlebte nicht vergessen, so schrieb ich, als ich durch meine Arbeitslosigkeit ein paar Tage Zeit hatte, alles auf. Es war gut so, stellte ich jetzt fest, denn heute hätte ich das meiste davon vergessen gehabt und nicht mehr so erzählen können.
Aber ich weiß noch, wie ich im Sektionsbüro stand und Sie hereinkamen, ganz aufgeregt und erzählten, dass Sie zu Hause Drohbriefe und -anrufe bekommen hatten, weil sie den Aufruf zur traditionellen Demonstration im Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht mit unterzeichnet hatten.
Wie ich jetzt in meinen Erinnerungen gelesen habe, sprach ich bei dieser Gelegenheit wohl auch mit Ihnen über meinen Aufruf zur Errichtung einer echten Demokratie. Sie äußerten sich wohlwollend und unterschrieben ihn, wenn ich mich recht erinnere, was mich ermutigte.
Zu Hause am Sonnabend, kam mir die Einsicht, dass diese Demonstration am 14. Januar die letzte Möglichkeit sein könnte, das Ende des Sozialismus in der DDR zu verhindern1, und rief Sie abends an, ob Sie dort nicht eine entsprechende Rede halten könnten, um die Genossen zu bewegen, die DDR nicht auf dem Silbertablett den Westdeutschen als Geschenk zu servieren. Sie sagten mir, dass man sich nicht darauf habe einigen können, wer rede und was und darum einen Schweigemarsch verabredet habe. Daran fühlten Sie sich gebunden, was ich akzeptieren konnte. Dann, sagte ich mir, bliebe nur ich selbst übrig, um dort zu reden.
Ich wusste, dass mein Mann mich nicht würde gehen lassen. Aber ich war ganz ruhig. Wenn es Gottes Wille war, dann würde er einen Weg finden. „Wachet und betet“ ging mir die ganze Zeit durch den Kopf. Mein Mann schlief ruhig neben mir. Ich aber überlegte, was ich dort den Genossen sagen würde, dass ich meinen Talar mitnehmen würde und Modrow und Gysi gegenübertreten würde und sie bitten, den wahren Gott zu ehren statt nun Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu neuen Göttern zu erheben, - an Stelle der nun abservierten Marx, Engels und Lenin.
Seit unserem Besuch in einem orthodoxen Kloster in Riga im Februar 1989 während einer Studienfahrt mit Studenten ging mir die Tageslosung meiner dort gehaltenen Andacht nicht mehr aus dem Kopf: „Gott hat alle in den Ungehorsam zusammengeschlossen, auf dass er sich aller erbarme.“ (Röm. 11,23). In diesem Sinne wollte ich reden. Dort auf dem Friedhof glaubte ich, ein Recht dazu zu haben, im Namen des Andersdenkenden zu reden, dort angesichts der Toten im Namen des Herrn über Leben und Tod.
Ja, ich bin da gewesen. 1999, als ich nach der Geburt ein Jahr in Elternzeit war, habe ich Sie mal besucht, um Sie nach einem Zeitungsartikel zu fragen, der 1992 erschienen war, und in dem es hieß, dass Sie selbst nicht IM gewesen waren, aber acht Leute um sie herum, darunter auch Ihre Sekretärin, sie abgeschöpft hätten. Ich weiß nicht, ob ich in diesem Zusammenhang auch über meinen Auftritt bei der Demonstration am 14. Januar gesprochen habe, aber mir ist, als wenn ich es kurz angedeutet hätte und Sie darauf so reagiert haben, als wüssten Sie, was passiert war.
Ja, ich war da, aber dass ich gehen konnte, das war für mich das Wunder, denn mein Mann hätte mich nie gelassen, wenn ich ihm gesagt hätte, was ich vorhatte. Mitten in dieser Nacht kehrte unser Nachbarn heim, der längere Zeit wegen eines Gefängnisaufenthalts nicht zu Hause war. Es muss nachts um Eins gewesen sein, als er mit anderen kam und feierte. Unser Schlafzimmer lag neben seinem Badezimmer. Da hallte es besonders. Mein Mann wurde wach und konnte nicht wieder einschlafen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, stand auf und ging ins Wohnzimmer. Ich sah auf die Uhr. Es war genau 4 Uhr. Da wusste ich, dass der Weg für mich frei war. Ich war ganz ruhig.
Eigentlich hätte ich Kindergottesdienst zu halten gehabt. Ich fand einen Zettel in der Küche, auf den schrieb ich, dass ich das heute nicht könne und klemmte ihn auf dem Weg zur S-Bahn an die Kirchentür. Meine Bibel war im Wohnzimmer, auch mein Portemonnaie und mein Ausweis. Ich fand 50 Pfennig. Das würde reichen für die S-Bahn. Unsere Sohn war bei den Großeltern, unsere Tochter ließ mich gehen. So machte ich mich früh auf den Weg.
Noch nie war ich auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde gewesen, aber ich fuhr bis Friedrichsfelde Ost und fand den Weg dorthin. Nur wenige Menschen waren da. Erst allmählich füllte sich der Platz. Es sah anders dort aus, als ich erwartet hatte. Ich zog meinen Talar an, als ich spürte, dass jetzt wohl Modrow und Gysi kommen würden. Weil es immer mehr Gedränge gab, versuchte ich Ihnen entgegen zu gehen. Die Menschen gaben mir den Weg frei, aber der Zug ging um das Rondell herum und nicht vorn an den Gräbern von Liebknecht und Luxemburg vorbei. So konnte ich nur ahnen, wo die Politiker waren. Es ging ganz schnell, dann waren sie schon ein Ende weg auf dem Weg zum Ausgang.
Ich aber stand auf der steinernen Rednertribüne und begann zu reden, obwohl vor mir nur ein paar Leute waren. Sie verwickelten mich in eine Diskussion. Dann kamen ganz viele Journalisten und ich sprach in lauter Mikrophone. Sie wollte wissen, wer ich sei. Ich sagte, ich wäre hier im Namen eines Andersdenkenden, des Herrn über Leben und Tod, ich hätte ihnen schon so viel Persönliches gesagt, dass sie herausbekommen könnten, wer ich sei, aber meinen Namen sagte ich nicht. Rund eine Stunde stand ich da und redete mit ihnen, dann kam ich in ein intensives Gespräch mit einem stellvertretenden Chefredakteur des ND. So traten wir zur Seite und redeten dort noch eine Stunde. Noch immer zog ein breiter Strom von Menschen vorbei. Doch nach Stunden dort machte ich mich auf den Weg nach Hause.
Mein Mann war in der Küche beim Mittagkochen. Ich wollte ihm meine Talar geben und sagte: „Das war's. Ab jetzt bin ich ganz für die Familie da.“ Aber er nahm ihn nicht an. Ich war nicht müde, nur gespannt, was die Medien berichten würden. Vorsichtshalber rief ich meine Eltern an. Meine Mutter war am Telefon. Sie bekam einen tüchtigen Schreck als ich ihr erzählte, wo ich gewesen war und geredet hatte.
Dann um 19.30 Uhr die Aktuelle Kamera, die DDR-Nachrichtensendung. Über die Demo wurde nur kurz gesagt, dass sie stattgefunden habe, sonst nichts, dafür ausführlich über die erste große Demo der gerade gegründeten SDP auf dem Alexanderplatz.
Am nächsten Tag las ich in der Berliner Zeitung, dass 10.000 dort gewesen wären und nebenbei auch, dass in Friedrichsfelde 300.000 waren. Ja, diese Berichterstattung war schon interessant,, aber für mich kein Wunder, sondern politisch verständlich. Ich, als Pastorin im Talar dort, ich passte nicht ins Bild und so landeten all die Aufnahmen meiner Rede und der Diskussion dort auf der Rednertribüne irgendwo in Archiven oder wurden gleich gelöscht. Ich weiß es nicht. Dafür gab es jedenfalls keine Verwendung.
Für mich aber war dieses Erlebnis etwas Heiliges. Einmal habe ich in der Folgezeit in einer Predigt davon gesprochen, aber als wenn es mir ein Dritter davon erzählt hätte. Niemand hat mich darauf angesprochen hinterher, auch nicht als ich diese Predigt in Marzahn/Nord noch einmal hielt. Gern hätte ich allen Freunden davon erzählt, aber es war für mich so heilig, dass ich es nur dann tat, wenn ich spürte, dass der oder die andere und die äußeren Umstände dafür angetan waren, wenn es ein tiefes Gespräch werden konnte und nicht nur ein Plaudern am Kafffeetisch.
Lieber Herr Professor, Sie haben viel erlebt in der Folgezeit, wurden Rektor der Humboldt-Universität, dann abgesetzt aufgrund von Stasi-Vorwürfen, Sie waren Europa-Abgeordneter der PDS, engagiert auf Kirchentagen am Stand der Rosa-Luxemburg-Stiftung zusammen mit Ihrer Frau, wo ich Sie traf. Und beim Gedenken am Sinti-Stein auf unserem Marzahner Parkfriedhof jährlich am 2. Sonntag im Juni waren Sie wohl immer dabei. Zuletzt sahen wir uns anlässlich der Palästina-Tagung während des Kirchentages 2017 bei uns im Gemeindezentrum Marzahn/Nord. Wie mag es Ihnen jetzt gehen und wie mögen Sie jetzt über all das denken, was damals passierte?
35 Jahre sind seitdem vergangen! Kaum zu glauben. Die DDR ist nur 40 geworden, 33 Jahre davon bestimmten mein Leben. Ich bin darin aufgewachsen und hatte keine Vorstellung davon, dass es mal so anders kommen könnte, wie es dann gekommen ist: friedlich ohne Krieg – Gott sei Dank!!! - Nicht nur wir, sondern bis auf fünf von den 14 sozialistischen Ländern wurden alle wieder kapitalistisch und die anderen fünf mehr oder weniger auch.
Jedenfalls war der Traum einer sozialistischen Gesellschaft, in dem der Mensch und nicht das Geld im Mittelpunkt der Politik steht, ausgeträumt und hatte sich selbst ad absurdum geführt. Immer mehr kam die Wahrheit ans Licht über all das Schreckliche, was unter Stalin und vorher und hinterher an Schlimmen passiert war. Davor nicht die Augen zu verschließen, wenn man wie Sie von der moralischen Überlegenheit der sozialistischen Idee überzeugt war, war nicht leicht.
„Gott hat uns alle in den Ungehorsam zusammengeschlossen, um an allen Barmherzigkeit zu erweisen.“ - Ob Sie dazu Ja sagen können? Ich glaube Ja.
Es grüßt Sie herzlich Ihre ehemalige Assistentin
P.S.:
Inzwischen habe ich bei einer Internetrecherche nach online-Zeitungen aus dieser Zeit mitbekommen, dass das ND vom 15.01.1990 doch über mich auf S. 3 im zweiten Absatz unter der Überschrift "Verantwortung für die Wahl übernehmen" berichtet hatte.
Dort heißt es: "Spontan kamen viele Gespräche am Rande zustande. Eine Pastorin im Talar brachte in einem Gespräch mit René Wiggers,2 Mitglied der SED-PDS, ihre Ängste zum Ausdruck, unser Land könne in ein Chaos geführt werden. So unterschiedlich die Meinungen der beiden zu vielen Fragen auch sind, in einem waren sie sich einig. Wenn wir aus der gegenwärtigen Situation herauskommen wollen, geht das nur mit und nicht gegeneinander. Da haben Christen und Atheisten gleiche Verantwortung für die Zukunft unseres Landes."
Ob es der Mann war, mit dem ich eine Stunde geredet habe, weiß ich nicht, denn unter den Redakteuren des ND steht dieser Name nicht im Impressum des NDs vom 15.01.1990. Vielleicht war es auch einer der vielen, mit denen ich auf der Steintribüne gesprochen hatte.
Himmlischer Vater, Du redest zu uns durch Dein Wort der Heiligen Schrift, aber auch durch das, was geschieht, was wir erleben, auch durch die Weltpolitik, durch die Corona-Pandemie – ein so winzigen Virus. Welche Kraft steckt in so manch einer Pflanze, der weder Kälte noch Hitze noch Trockenheit etwas anhaben kann! Wie wunderbar hast Du alles erschaffen und lenkst Du die Geschicke der Völker wie jedes Einzelnen von uns. Du schenkst uns Kraft, Du legst uns Worte in den Mund, sie auszusprechen zur rechten Zeit. Wir sollen nicht zittern, was wir sagen werden, wenn wir vor Gericht stehen oder eben auch vor einer Menschenmenge. Herr, Du hast es in der Hand, ob ein Wort die Herzen der anderen erreicht und etwas bewirkt oder ob es verhallt in der Leere des Raums und angesichts tauber Ohren. Aber was gesagt ist, ist gesagt und was getan wurde, ist getan und eines Tages wird alles ans Licht kommen und die Reinheit der Gedanken offenbar, Dein Wirken und das Wirken jener, die meinen selbst die Größten und Klügsten zu sein. Herr, erbarme Dich Ihrer.
Anmerkungen:
1 Durch meine Beschäftigung mit der 1.Häfte des 19. Jahrhunderts und der 1848 Revolution hatte ich feudale Kritik an den damals offen diskutierten kommunistischen Ideen gelesen, die mich überzeugt hatte: Eine solche Umwälzung der Wirtschaft und der ganzen Gesellschaft, wie die Kommunisten sie vorschlugen, würde das Land um Jahre und Jahrzehnte gegenüber anderen zurückwerfen. Ich sagte mir, wenn dies nun wiederum in der anderen Richtung erfolgen würde, wären die Folgen auch wieder entsprechend.
2 Im Internet finde ich einen René Wiggers, der mit 57 Jahre 2013 in Rostdock verstarb und dort den Reniker Liedersommer organisierte (https://www.0381-magazin.de/rostock/magazin/show/id/1417), aber sich auch politisch für die Auflösung der Bundeswehr eingesetzt hatte .(https://www.facebook.com/lag.jungen.maenner.vaeter.mv/posts/vor-zwei-jahren-und-zwei-tagen-starb-unser-freund-und-mitstreiter-ren%C3%A9-wiggers-u/374832032726100/)
Hier der Ausschnitt aus S. 3 des Neuen Deutschlands vom 15.01.1990 (s.: https://www.nd-archiv.de/ausgabe/1990-01-15):