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Die Nachricht an der Tür

Lieber Herr E,

ich sehe Sie noch vor mir, wie Sie an meinem Fenster vorbeigingen, um an meine Tür zu klopfen, während ich noch am Computer saß: ein großer schlanker Mann mit einer Glatze. Sportlehrer waren Sie gewesen, auch Fußballer, kamen aus Thüringen, hatten sich dort mit der Obrigkeit angelegt, wollten Republikflucht begehen, waren dabei geschnappt worden und nach Bautzen gekommen, hatten dort Schlimmes erlebt. Sie haben uns darüber an einem Dienstag im Rahmen unserer Reihe „Zeitzeugen“ erzählt, wie Sie mitgewirkt hätten am Aufstand 19891 und im letzten Bus, der die Gefangenen zum Austausch in den Westen fuhr, noch mitgekommen waren. Sie hatten Tränen in den Augen. Ihre Stimme versagte, als Sie zu dem kamen, was Sie in der Haft erlebten. Das wirkte überzeugend, doch so richtig wussten wir wohl alle nicht, was wir davon halten sollten. Manches klang doch unwahrscheinlich, vor allem wie sie durch das Fenster bei der Verhaftung gesprungen waren und dann doch gefasst wurden, auch dass Sie den Aufstand der Gefangenen mit angeführt hatten, aber dann doch in den Westen abgeschoben wurden.

Sie erzählten mir, von Ihrem schwierigen Anfang dort im Westen, von Ihrer Traumatisierung durch die Folgen der Haft in Bautzen, dass Sie darum zurück gekommen waren zu uns in den Osten. Sie baten mich um finanzielle Unterstützung angesichts Ihrer Krebserkrankung. Ihr Hartz IV reiche nicht für die spezielle Ernährung, die Sie brauchten. Ein andermal war Ihr Hund krank und brauchte Behandlung. Er wäre doch der einzige, den Sie hätten. Der dürfe nicht sterben. Ansonsten erwähnten Sie eine Frau, zu der Sie wegen des Hundes Kontakt hatten, die außerhalb Berlins wohne, von der Sie aber abfällig sprachen.

Auf ihren Wunsch besuchte ich Sie im Unfallkrankenhaus. Sie trafen mich unten im Empfang. Sie zeigten mir, ihren Verband. Dann brauchten Sie Unterstützung für eine Rhea-Kur, weil die Kasse nicht alles bezahle. Sie vermittelten mir den Eindruck, dass ich es mit einem Todkranken zu tun habe. Ich wusste, dass ich nichts von dem, was ich Ihnen als Unterstützung gab, zurückbekommen würde, und wurde zunehmend misstrauisch. Sie redeten immer wieder davon, zum Gottesdienst zu kommen, aber kamen immer dann, wenn Sie mich allein antrafen. Nur unser Sohn war zu Hause und ließ mich spüren, dass er Sie nicht mochte und es ihm unangenehm war, wenn Sie kamen. Ich nahm mir vor, Ihnen kein Geld mehr zu geben, aber Sie waren talentiert darin, immer neue Gründe zu finden. Sie hätten sich alles aufgeschrieben. Ich würde es wieder bekommen. Einiges ließ ich mir auch quittieren. Zwischendurch aber gab es auch längere Pausen in unserer Bekanntschaft, in denen es Ihnen offensichtlich besser ging oder Sie eben zur Kur waren.

So ging das rund ein Jahr. Am Sonntagmorgen des Erntedankfestes riefen Sie mich an, ob ich nicht zu Ihnen kommen könne. Ihr Hund liege im Sterben. Ihre Stimme klang ganz verzweifelt. Nun, die familiäre Situation ließ es zu, dass ich nach dem Mittagessen einen Spaziergang machen konnte. Sie wohnten nicht weit entfernt. So machte ich mich, etwas widerwillig auf den Weg. Ein sterbender Hund war für mich als Pastorin eigentlich kein Grund, jemanden zu besuchen, aber da Sie selbst ja dem Tode so nah waren durch Ihren Krebs, ging ich los. Ich hatte Sie ja schon zu Anfang unserer Bekanntschaft mal zu Hause besucht und wusste, wo Sie wohnen. Ihre Wohnung war einfach eingerichtet gewesen, noch mit DDR-Möbeln, so habe ich es in Erinnerung, aber alles war sauber und ordentlich gewesen. Ich klingelte unten an der Tür des 11 Geschosses, aber niemand meldete sich. Doch es kam jemand, so dass ich ins Haus konnte.

An Ihrer Wohnungstür hing ein Zettel, dass Sie im Krankenhaus wären, offensichtlich als Nachricht für mich. Ich ging wieder die Treppen hinunter, wurde dann aber unsicher. Es wäre besser, wenn ich den Zettel abmachen würde, denn sonst wüssten alle, dass niemand in der Wohnung wäre und es könnte zu einem Einbruch kommen. Darüber hatten wir in der Gemeinde geredet, beim Nichtantreffen einer Person keine Nachrichten an die Tür zu stecken. So ging ich die Treppen wieder hoch.

Vor der Tür stehend hörte ich Stimmen in der Wohnung und klingelte. Eine Frau machte auf und ließ mich ein. Mein Blick fiel auf den Hund, der ganz gesund aussah, dann auf Sie, wie Sie auf dem Sofa saßen, total betrunken. Wie es weiter ging, wissen Sie. Ich sagte: „Der Hund stirbt ja gar nicht.“

„Doch, der stirbt aber bald.“ lallten Sie. Ich solle mich zu Ihnen setzen. Sie stellte mich der Frau als Ihre Pastorin vor und ich erfuhr, dass es jene Frau war, von der Sie mir öfter erzählt hatten. Wir sollten unsere Telefon-Nummern austauschen, weil Sie ins Krankenhaus müssten. Ja, das war offensichtlich, aber nicht wegen Krebs, sondern wegen eines nötigen Entzugs. Die Wohnung sah schlimm aus. Überall lagen die Flaschen.

Das hatte ich nicht erwartet. Nie hatte ich bei Ihnen irgendetwas gerochen, wenn Sie kamen. Dabei hatte ich doch viel mit Alkoholikern zu tun gehabt und hatte Argwohn, wenn jemand um finanzielle Unterstützung bat. Doch Sie betonten immer, ein Sportler zu sein, ein Kämpfertyp und nur darum noch so kräftig zu sein angesichts Ihrer Erkrankung. Sie wollten noch leben und sich nicht unterkriegen lassen, wie ernst es auch um Sie stand.

Am nächsten Tag haben wir beiden Frauen miteinander telefoniert. Ich erfuhr, dass sie sich gewundert hatte, woher Sie als Hartz-IV-Empfänger soviel Geld hatten, um ihr z.B. sehr teures Parfüm zu schenken. Als ich hörte, wann das war, war es mir klar. Auch ihren Kindern gefiel der Kontakt zu Ihnen nicht. Kinder haben wohl noch mehr als wir Erwachsene ein Gespür dafür, wenn etwas mit einer Person nicht stimmt. Es wurde deutlich, dass Ihre Storries wohl immer für ein Jahr reichen und dann kommt die nächste Frau dran. Aber nicht nur Frauen, auch Pfarrer.

Ich warnte meine Kollegen vor Ihnen und zumindest einer in der Runde kannte Sie schon. Da waren Sie also auch schon gewesen. Auch einen freikirchlichen Pfarrer warnte ich vor Ihnen, als ich hörte, dass er Sie kannte. Wie ich später hörte, haben Sie ihn trotzdem noch mal dahin bekommen, dass er Sie mit Geld unterstützte. Ja, sie haben es drauf! Ihr eigentliches Problem verstecken Sie.

Von den Leuten, die Sie schon kennen, reden Sie schlecht, wie von den Mitarbeitern des Quartiersmanagements gleich in ihrer Nähe. Sie sind ein Hoch- und ein Tiefstapler zugleich. Tief im Blick auf Ihre gesundheitlichen Probleme und Hochstapler im Blick auf Ihre Gefängniszeit und wie Sie Menschen in Not schon geholfen haben.

Ich habe nach Bautzen geschrieben und mir Bücher über dieses DDR-weit bekannte Gefängnis2 angeschafft. Man kennt Sie als Widerstandskämpfer dort nicht. Alles, was Sie uns erzählten, haben Sie sich entweder ausgedacht, oder von jemandem anderen gehört und uns erzählt, als wären Sie der Held gewesen. Nach dem Lesen der Bücher vermute ich eher ersteres.

Vor kurzem war ich, nun Jahre später, mal wieder an „Ihrer“ Haustür. Ihr Name steht dort nicht mehr. Was wohl aus Ihnen geworden ist? Sind Sie schon tot? Wie geht es Ihnen? Gern würde ich mit Ihnen noch mal über alles reden. Wie es Ihnen ergangen ist damit, wie Sie mich zum Narren gehalten und ausgenommen haben. Leid hat es ihnen garantiert nicht getan.

 

Warum denke ich an Sie, wenn ich über Wunder erzähle, die ich erlebt habe? Es war das Gespräch, in dem es um das Verteilen von Gemeindeblättern ging, an das ich dachte, als ich die Treppe runter ging, das mich bewog, umzukehren, um den Zettel an Ihrer Tür aus Sicherheitsgründen zu entfernen, wodurch ich Ihre Stimmen in der Wohnung hörte. Damit hatten Sie nicht gerechnet. Sie konnten ja auch nicht wissen, was mir durch den Kopf ging, so dass ich noch einmal zurückkam und dadurch der ganze Schwindel aufflog!

 


 

Jesus, Du hast gesagt, was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Du weißt sicher, dass dies einige ausnutzen, und gegenüber uns Pfarrern so tun, als gehörten Sie dazu. Ich bin dankbar, weil ich hörte, dass nicht nur ich, sondern auch andere Kollegen lieber einmal zu viel geben, als einmal zu wenig, dass sie sich Zeit nehmen für Gespräche und tun, was sie können.

Ja, es wird von einigen Leuten ausgenutzt. Wir tun Ihnen im Grunde nichts Gutes, wenn wir auf sie hereinfallen, sondern verstärken Ihre Masche, mit der sie andere belügen und ausnutzen. Aber Herr, lieber gebe ich jemanden zu viel als jemandem zu wenig. Ich habe den Rat gelesen, Abstand zu halten von solchen Hochstaplern, weil man machtlos gegen Sie ist. Obwohl Tränen fließen, es ist alles nur Fassade. An den Kern, ans Herz dieser Menschen kommt man nicht heran. Ja, Herr, ich bin immer wieder darauf hereingefallen, habe die Geschichten, die mir erzählt wurden, zumindest für möglich gehalten, auch wenn ich Zweifel hatte. Es war kein Wunder, dass diese Menschen so einsam waren. Sie zerstören jede Beziehung zu anderen Menschen, die sie gerade aufgebaut haben, so wie der Herr E. es tat - genau nach einem Jahr. Er hat selbst dafür gesorgt, dass seine Lügen aufflogen. Er wollte, dass wir die Telefon-Nummern austauschten!

Herr, ich bin schuldig geworden, an meiner Familie, meinem Sohn, dass ich so oft diesen Mann in mein Arbeitszimmer gelassen habe, ihm so viel Zeit geschenkt habe, ihn besucht habe im Krankenhaus, wo er mich doch nur zum Narren gehalten hat. So vermute ich es jedenfalls. Nichts glaube ich ihm mehr von all seinen Geschichten. Ob er wohl selber noch seine wahre Geschichte kennt? Wenn eine bestimmte Überlebensstrategie, wie man das nennt, funktioniert, dann ergibt sie einen Lernerfolg. Es prägt sich ein: "So musst Du mit den Leuten reden, dann geben Sie Dir, was Du möchtest, sind nett zu Dir, machen sich Sorgen um Dich, verlieben sich in Dich...".

O, Herr, wehre dem. Lass doch die Lügen schnell auffliegen! Rede Du zu Ihnen – ja, ich rede im Plural. Es gibt noch mehr von diesen auf Pfarrer spezialisierten Bittstellern. Hilf doch, dass die, die wirklich Hilfe brauchen, auch den Weg zu Deiner Gemeinde finden! Herr, erbarme Dich! Erbarme Dich auch derer, die prinzipiell nichts geben. Ja, auch solche Kollegen gibt es. Erbarme Dich auch Ihrer! Herr, uns geht es doch gut, angesichts unserer Gehälter. Auch haben wir die Möglichkeit sogenannte „Liebesgaben“ in der Gemeinde abzurechnen, ohne ein Quittung oder einen Beleg, wem wir Sie gegeben haben. Du weißt Herr, dass ich das wenigste so abgerechnet habe, vor allem nicht, wenn ich unsicher war, wie bei Herrn E. Oh, Herr, ich möchte in Deinem Sinne leben. Aber ich sehe, dass ich damit auch die falschen Leute unterstütze. Herr, erbarme Dich meiner!

 


Anmerkungen:

1 Auf der Wikipediaseite ist nur von einem Aufstand 1959 die Rede, nicht von 1989: https://de.wikipedia.org/wiki/Justizvollzugsanstalt_Bautzen

2 Ronny Heidenreich: Aufruhr hinter Gittern. Das "Gelbe Elend" im Herbst 1989, Leipziger Universitätsverlag 2009; Karl Wilheln Fricke, Silke Klewin: Bautzen II. Sonderhaftanstalt unter mfS-Kontrolle. 1956 bis 1989. Bericht und Dokumentation. Schriftenreihe der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft Band 8, Dreseden, 3. aktualisiert Aufl. 2007