Berlin-Marzahn im Herbst 2020
Lieber Bruder Theremin,
ob sich die Pastoren zu Ihren Lebzeiten so anredeten, weiß ich zwar nicht, aber ich empfinde diese Anrede als stimmig, obwohl ich auch genauso „sehr geehrter Professor“ sagen könnte, denn seit dem Lesen Ihrer „Die Beredsamkeit - eine Tugend“ und Ihrer Predigten habe ich größte Achtung vor Ihnen. Wie lernte ich Sie kennen?
In den Jahren 1986 bis 1990 hatte ich durch eine Stelle als Assistentin für Praktische Theologie die Chance, die in meiner Dissertation A begonnene Untersuchung der marxistischen Vorwürfe gegen das Christentum anhand der Predigten der Berliner Hof- und Domprediger für die erste Hälfte des 19. Jahrhundert fortzuführen. In jenen Jahren wirkten dort u.a. Sie, Franz Theremin, als ein Zeitgenosse Friedrich Schleiermachers, den heute noch jeder Theologe kennen muss, während Sie für die Nachwelt zu Unrecht in seinem Schatten standen und fast vergessen wurden. Mir imponierte, dass Sie, bevor Sie selbst anfingen zu predigen, die berühmtesten Prediger Ihrer Zeit besuchten und sich anhörten. Das waren katholische in Paris, während Sie als Nachkomme der Hugenotten zu den Reformierten gehörten. Auch befassten Sie sich intensiv mit der antiken Rhetorik.
Dann haben Sie Ihre Gedanken und Erkenntnisse in "Die Beredsamkeit - eine Tugend“ zusammengefasst, also eine allgemeine Ethik des Redens geschrieben. Ihnen ging es darum, sich zu vergewissern, was Ihnen als Redner das Recht gäbe, andere Menschen, die Ihnen gleichgestellt sind, durch Ihr Reden beeinflussen zu wollen, in ihnen Gefühle, Gedanken oder Taten hervorzurufen. Denn dazu redet man ja. Für Sie war klar, Reden ist Handeln und deshalb muss es ethisch zu verantworten sein.
Ihr Buch wurde dreimal veröffentlicht. Für die zweite Auflage 1837 schrieben sie ein ausführliches Vorwort zum Predigen. Das vorläufig letzte Mal erschien es1888 in der Bibliothek theologischer Klassiker. Mir erschien das anschließende Vergessen dieses so wichtigen Werkes damit in Verbindung zu stehen, dass in diesen Jahren die Werbung entstand und in der Folgezeit Techniken der Manipulation der Massen eine große Rolle spielten. Es galt nun der etwas, der diese Methoden am besten beherrschte und dadurch wirtschaftlichen oder politischen Erfolg hatte. Auf die Frage der Wahrheit kam es nicht mehr an, sondern nur auf die des Erfolgs. Da war eine Ethik des Redens nicht mehr von Interesse.
Sie selbst haben viele Bände Ihrer Predigten herausgegeben, die zahlreiche Auflagen erlebten. Auch waren Sie Professor für Praktische Theologie an der Humboldt-Universität. Zu gern hätte ich Ihre Vorlesungsmanuskripte gelesen und machte mich auf die Suche nach Ihrem Nachlass. Anfang des 20. Jahrhunderts war dieser noch bei Verwandten in St. Georgsberg bei Ratzeburg in Schleswig-Holstein vorhanden. Das wusste ich aus der Literatur. Ich schrieb an das Archiv von Ratzburg und erhielt Hinweise auf mögliche Verwandte in anderen Orten. Auch aus Hamburg erhielt ich einen Hinweis, aber dann verlief sich die Spur. So musste ich davon ausgehen, dass Ihr Nachlass möglicherweise im 1. Weltkrieg verlorengegangen war.
Ich wollte am liebsten Ihre Ethik des Redens erneut veröffentlichen und schrieb einen Aufsatz darüber, den ich einer Kollegin gab, die Beziehung zu einem Verlag hatte. Sie gab ihn mir aber als nicht interessierend nach einiger Zeit zurück. So liegt er noch immer bei mir, um noch mal von mir abgeschrieben zu werden, damit ich ihn dann auf meine Webseite im Internetveröffentlichen kann.
Eines Tages nach mehr als 25 Jahren, es muss Anfang 2015 gewesen sein, bekam ich hier in Marzahn einen Anruf von einer Frau Theremin aus der Nähe von München. Sie erzählte mir, dass sie durch meine Dissertation auf mich gestoßen war, die ich über Ihre Predigten und die Ihrer Kollegen geschrieben hatte und dass sie eine Verwandte von Ihnen sei und deshalb auch den Namen bei ihrer Heirat behalten habe. Den Hinweis auf mich habe sie von einem literarisch sehr bewanderten Herrn bekommen, mit dem sie zufällig vor einer Buchhandlung ins Gespräch gekommen war.
Ich war begeistert: Nach so viel Jahren und der vergeblichen Suche nach Ihrem Nachlass ruft mich in Berlin eine Verwandte von Ihnen aus der Nähe von München an! Ist das nicht ein Wunder? Für mich war es eins. Ich habe mich riesig gefreut!
Aber die Geschichte ging noch weiter. Seit 2012 organisierte ich mit einem ökumenischen Team zum Ende des Schuljahres eine „Zeitreise“, jedes Mal zu einem anderen Thema. Angesichts des Reformationsjubiläums 2017 mit seiner Konzentration auf Luther stellten wir Persönlichkeiten vor, die zu ihrer Zeit und oft auch für die Nachwelt im Schatten von anderen Berühmteren standen und so weitgehend vergessen wurden wie Sie, Johannes Agricola und auch der König Saul oder Menschen, die zu ihrer Zeit Ärger erregten und deshalb verurteilt wurden wie Paul Gerhardt und vor allem Jesus. Aus diesem Anlass besuchte uns auch Ihre Großnichte zusammen mit Ihrem Mann. Wir saßen mit ihnen um einen großen Wohnzimmertisch zusammen und sie erzählte, über welche Linie sie mit Ihnen verwandt ist und aus der Familiengeschichte.
Als wir das erste Mal telefonierten, hatte sie mir erzählt, dass sie auch russische Verwandte habe. Anschließend sah ich im Internet nach und kam auf Leon Theremin, den Erfinder des ersten elektronischen Musikinstruments, des nach ihm benannten Thermins, und erfuhr die aufregende Geschichte dieses Erfinders, der so viele Jahre ein Gefangener des KGBs war. In diesem Jahr wurde seiner anlässlich von 100 Jahren seiner Erfindung in vielen Beiträgen in den Medien gedacht und in Russland gefeiert.
ganz rechts: Leon Theremin
Bis heute bin ich mit Ihrer Großnichte noch in Kontakt. Gleich nach der Begegnung mit ihr habe ich mein Exemplar Ihres Buches eingescannt und auf meine Internetseite gestellt und mich immer gefreut, wenn diese Seite auf Interesse stieß. Später entdeckte ich, dass Ihre Rhetorik schon in Internet Bibliotheken veröffentlicht wurde. So habe ich es dann dort verlinkt. Aber ein Button auf meiner Webseite weist immer noch auf Sie hin. Dort soll auch noch mein Aufsatz hin, in dem ich versuche, Ihre uns heute oft fremd gewordenen Begriffe ins heutige Deutsch zu übertragen und sie zu erklären.
Lange Zeit habe ich mir bei der eigenen Predigtvorbereitung Ihre Hauptbegriffe aufgeschrieben: Pflicht – Tugend – Glück einerseits und Wahrheit - Wahrscheinlichkeit - Möglichkeit andererseits und mir überlegt, was dies jeweils im Blick auf den biblischen Text und meine Predigt wäre.
Nun, drei Jahre nach unserer Begegnung bei der Zeitreise 2017 erhielt ich wieder Post von Ihrer Nichte.12 Sie hatte nach langem Suchen das Buch wiedergefunden, auf das sie bei ihrem Gespräch mit jenem alten Herrn vor der Buchhandlung hingewiesen wurde, als der ihren Namen „Theremin“ hörte. Sie hat es mir vom Verlag schicken lassen, der noch einige Exemplare davon hatte. Hazel Rosenstrauch hat dieses Büchlein geschrieben „Varnhagen und die Kunst des geselligen Lebens. Eine Jugend um 1800,“ Berlin 2003, auf dessen hinteren Umschlagseite Ihr Name als Gesprächspartner Varnhagens in einer kritischen Äußerung über die Schlegels und Schleiermacher genannt wird. Ich habe das Büchlein sofort gelesen und bin reich beschenkt worden durch Eindrücke aus der damaligen Zeit, nicht nur der Salons, sondern der Wucht der geistigen Auseinandersetzungen, die Sie damals durch die Französische Revolution und die napoleonische Zeit zu verarbeiten hatten.
Ich staune immer wieder, was alles in ein Menschenleben hineinpasst, womit Menschen also auch innerlich fertig werden mussten. Dazu haben Sie mit Ihrem Werk in Ihrer Zeit sehr beigetragen und ich wünschte mir, dass davon auch heute wieder mehr bekannt würde.
Gestern habe ich Ihre Nichte angerufen und ihr für das Buch gedankt. Sie saß gerade im Garten und hatte meine Dissertation in der Hand und hatte nachgesehen, was ich von Varnhagen gelesen hatte. Es war also Gedankenübertragung – von Berlin bis Gräfelfing hinter München!
Lieber Bruder Theremin, so viel würde ich gern noch mit Ihnen besprechen, aber das müssen wir auf später verschieben. In großer Dankbarkeit für Ihr Wirken Katharina Dang
Himmlischer Vater, wie wunderbar ist es, Geistesverwandte zu finden durch das Lesen ihrer Bücher und wie wunderbar war es, dass ein Mann wie Franz Theremin, der durch seine beiden unverheiratet gebliebenen Kinder keine Nachkommen hatte, bis heute, also 200 Jahre später noch in seiner Familie geachtet und geliebt wird! Er selbst war in seinen letzten Jahren oft niedergeschlagen. Als alter Mann hat er die Anfänge der Industrialisierung hier in Berlin erlebt, das Wachsen der Stadt, die furchtbare Armut und den großen Reichtum, die Unruhe kommender Revolutionen.
Herr, ich danke Dir für das Wunder, dass heute nach mehr als 100 Jahren nach dem letzten Erscheinen und nach mehr als 200 Jahren des ersten Druckes sein Werk, besonders seine Ethik des Redens wieder auf Interesse stößt. O Herr, lass ein solches Denken unter uns doch wieder Einfluss gewinnen, damit ein Gegenpol entsteht zur Werbung und Manipulation.
Herr, habe Dank für diese Erfahrung, die Mut macht, auch heute nach der Wahrheit und der Angemessenheit unseres Redens angesichts der Würde des Angeredeten zu fragen.
Dir sei Lob und Ehre in Ewigkeit!
Anmerkungen:
1. Wie ich jetzt 2024 aus dem Internet erfuhr, gab es auch 1824 in Salfeld eine Ausgabe: s. google.de.books; Auch wird jetzt "Die Berdsamkeit eine Tugend" in mindestens 5 verschiedenen Nachdrucken von unterschiedlichen Verlagen angeboten, dazu weitere Schriften von Franz Theremin
2. Im Juni 2020 schrieb mir Frau Theremin darüber, wie sie zu dem Buch von Hazel Rosenstrauch kam, das sie mir schickte. Durch Zufall hatte siel einen älteren Herrn vor einer Buchhandlung kennenlernte. "Nach einer einstündigen Unterhaltung, meinte er, wir könnten uns ja vielleicht mal im Café zu einer weiteren Unterhaltung treffen, fragte nach meinem Namen und zuckte erkennbar zusammen, sprudelte etwas von "Varnhagen & Co" und einem 'befreundeten Theremin' aus einem Berliner Freundeskreis im 19. Jahrhundert. Er empfahl mir dann ... das Buch mit Abschnitten aus V's Leben in Berlin. Theremin wird dort hie und da als Gesprächspartner genannt - siehe auch die äußere Rückseite des Buches, wo eine kritische Anmerkung über Schleiermacher und Schlegel zu finden ist."