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Beim Wort genommen

(geschrieben 2019)

 

Lieber D., es ist schon lange her, 22 Jahre – dass wir uns das erste Mal gesehen haben – am späten Vormittag des Heiligen Abend 1997. Ich war gerade mit der Predigt für den 1. Weihnachtstag fertig. Im Predigttext aus dem Brief an Titus 3,4-7 ging es um Gnade und ich hatte einen Text von Jörg Zink als Hilfe zum Verstehen ausgewählt. Ein Verurteilter hatte seine Strafe abgesessen, war nun wieder frei und erlebte, wie er immer noch als „Böser“ von seinen Mitbürgern betrachtet und ausgegrenzt wurde.

Und nun wurde ich sofort beim Wort genommen und getestet. So kam es mir vor, als mein Kollege mich ins Gemeindezentrum rüber rief, weil ich Besuch hätte. N. war da und hatte Dich mitgebracht. Ob Du vielleicht bei uns über Weihnachten unterkommen könntest, so wie er selbst im Sommer vor einem Jahr? Unterm Dach im Asylzimmer wohnte noch E, der sicher nichts dagegen hätte, Gesellschaft zu bekommen. Entscheiden konnte ich das jedoch nicht allein, sondern musste der Gemeindekirchenrat. Dieser würde aber erst Mitte Januar wieder tagen.

Dein Freund erzählte, dass Du am Donnerstag entlassen worden warst und Anrecht auf ein Startgeld nach der Haft hattest. Aber jetzt so kurz vor Weihnachten hätte die zuständige Justizstelle zu war und erst im neuen Jahr wieder auf, Du also blank ohne eine Pfennig jetzt da stündest. Mit einem Überbrückungsgeld konnte ich Dir helfen. Ich holte von mir einen Schein rüber, wie viel weiß ich nicht mehr. N erklärte, dass Du über Weihnachten erst einmal bei ihm bleiben könntest. Auch vereinbarten wir einen Termin gleich nach Weihnachten, zu dem auch Dein Bruder kam und ein Wort für Dich einlegte. Er arbeitete bei der Aufsicht unserer S-Bahnstation, so dass wir uns ab und zu sahen. Das schenkte auch Vertrauen. Der Gemeindekirchenrat stimmte im Januar Deiner Aufnahme zu. Viel haben wir dann noch miteinander erlebt.

Die BVG schaffte schon bald die S-Bahn-Aufsicht ab, so dass ich Deinen Bruder später nicht mehr sah und ihn nicht mehr nach Deinem Ergehen fragen konnte. In der letzten Zeit habe ich Deinen Namen ein paar Mal im Internet gesucht, warst Du doch einer der ersten, der bei uns ein Handy hatte, und warst Du es doch, der mir von seinem Wunsch erzählt hat, die Jahrtausendwende bei der größten Silvesterparty der Welt in Rio de Janeiro zu verbringen.

Das zu hören, hat mich dazu bewegt, anzuregen, dass wir Marzahner Christen nicht nur Silvester 2000, sondern den 2000. Geburtstag Jesu in ökumenischer Gemeinschaft feiern, nicht nur zu Weihnachten, sondern ein ganzes Jahr lang, angefangen mit Mariä Empfängnis am 25. März und dem 2000. Geburtstag Johannes des Täufers beim gemeinsamen Johannisfest. Ohne Eure Reisepläne wäre ich sicher nicht rechtzeitig auf die Idee gekommen, dieses besondere Jahr 2000 in unserer Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen zu thematisieren und vorzubereiten.

So muss ich auch jetzt, wo ich mich um die Vorbereitung der Feiern zum 2000jährigen Jubiläum von Jesu Wirken, seinem Tod und seiner Auferstehung in den Jahren 2030 bis 2033 bemühe, immer wieder an Dich denken.

Als Wunder, als Zeichen Gottes aber habe ich jenen Heiligen Abend 1997 in Erinnerung. Ihr beide konntest ja unmöglich wissen, was ich gerade zu Papier gebracht hatte. Erzählt habe ich Euch sicher mal davon, vielleicht nicht gleich, aber später, und nicht nur Euch, sondern auch in der Gemeinde. Aber vorgelesen habe ich Euch diese Predigt vermutlich nicht und im Gottesdienst am
1. Feiertag ward Ihr beide auch nicht. Darum findest Du sie hier nun im Anschluss als Beleg dafür, wie mich damals Gott sogleich beim Wort nahm und Euch beide zu mir schickte.



Predigt über den Titusbrief 3,4-7

am 25. Dezember 1997 in der Kirchengemeinde Berlin-Marzahn/Nord

 

Liebe Gemeinde,

 

zu Weihnachten denken wir Christen traditionell nicht nur an unsere Familienangehörigen und Freunde, sondern auch an Menschen, die das Fest nicht im Kreis der Ihren feiern können, an die Einsamen, an die, die keine Familie haben, an die Kranken in den Krankenhäusern und Heimen und auch an die Menschen in den Gefängnissen. Gerade junge Christen machen sich darüber Gedanken und feiern den Heiligen Abend nicht mit ihrer Familie, sondern gehen in die Krankenhäuser oder zu Obdachlosen, um mit ihnen diesen Abend zu verbringen. Wer dann selbst Familie und Kinder hat, der kann das nicht mehr so einfach, aber wir können unsere Familien öffnen für Gäste und für Fremde.

Warum tun wir das an diesem Fest der Familie? Doch weil es eigentlich kein Fest der Familie ist, sondern ein Freudenfest über die Gnade und Barmherzigkeit Gottes mit uns Menschen.

Viermal ist von dieser Gnade in einem einzigen Satz die Rede, der einst dem Paulus-Freund Titus geschrieben wurde und über den wir heute nachdenken sollen:

„Als aber die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters, erschien, nicht aufgrund von gerechten Taten, die wir getan hätten,
sondern weil er Erbarmen hatte mit uns,
da rettete er uns durch das Bad der Wiedergeburt
und durch die Erneuerung im heiligen Geist,
den er in reichem Masse über uns ausgegossen hat,
durch Jesus Christus, unseren Retter,
damit wir, durch seine Gnade gerecht gemacht,
das ewige Leben erben, auf das wir unsere Hoffnung gesetzt haben.“4

Nicht aufgrund unserer Werke, die wir getan haben, sondern durch unsere Taufe und den Heiligen Geist, der uns geschenkt wird durch Jesus Christus wird uns das ewige Leben geschenkt werden.

Wir Menschen sind gewohnt, uns gegenseitig nach unseren Werken und Taten zu beurteilen. Bekommt ein Kind gute Noten für seine Arbeiten in der Schule, gilt es als guter Schüler. Will es diesen Titel behalten, muss es immer wieder gute Noten bringen.

Umgekehrt, bei einer schlechten Tat hält sich der Titel mit hoher Wahrscheinlichkeit lange, vielleicht sogar ein Leben lang. Stellen wir uns vor, was Jörg Zink in seinem Buch schreibt: „Einer hat einen Mord begangen und ist von da ab aussortiert. Er ist ein 'Mörder' als ob dies sein Beruf wäre.“ 5 Und dazu hat er ein Bekenntnis abgedruckt, das Dieter Frettlöh formuliert hat:

 

"...

Ich war im Gefängnis,

und ihr habt meine Angehörigen geschnitten,

als ob es noch immer Sippenhaft gäbe.

Ich war im Gefängnis,

und ihr habt euren Kindern verboten,

mit meinen zu spielen.

Ich war im Gefängnis,

und bekam keine Urlaub zur Aufrechterhaltung meiner Ehe,

und euch war es gleichgültig, dass sie zerbrach.

Ich war im Gefängnis,

und ihr habt euch nicht die Mühe gemacht,

nach der Grenze zwischen Krankheit und Schuld zu forschen

und danach, ob nicht auch ihr mitschuldig geworden seid.

Ich war im Gefängnis,

und wurde entlassen, und durch euer Misstrauen

- genährt von Vorurteilen und Verallgemeinerungen -

fing die Strafe erst richtig an.

Ich war im Gefängnis,

und wollte nach meiner Entlassung ehrlich und ohne Notlage neu anfangen,

doch gabt ihr mir keine Arbeit.

Ich war im Gefängnis,

und hatte nach meiner Entlassung endlich einen Arbeitsplatz gefunden,

da wurde ich wieder entlassen,

weil ich im Fragebogen der Firma die Frage "Vorbestraft?" mit "Nein" beantwortet hatte.

Ich kam wieder ins Gefängnis

und da sagtet ihr, es hätte ja doch keinen Zweck,

ich gehörte zu denen, die doch immer wieder kämen."7

 

Vielleicht würden wir sauer auf so ein Bekenntnis reagieren, das uns jemand entgegenhält, und würden sagen: „Du warst im Gefängnis. Das hat doch einen Grund gehabt. Davon aber redest Du gar nicht. Man merkt ja gar nicht, dass Dir Deine Tat leid tut. Du redest nur von der Schuld anderer, nur von der Schuld der Gesellschaft, die Dir keine Chance gibt, nach einer einmaligen Tat wieder ein normales Leben zu führen.“

Dieter Frettlöh8 aber hat über dieses Bekenntnis die Worte geschrieben: „Jesus Christus sagt: Ich war im Gefängnis und ihr habt euch nicht um mich gekümmert...“. Da fällt uns das Gleichnis Jesu vom Endgericht in Matthäus 25 ein, in dem der Menschensohn die Menschen teilt in solche, die Hungrigen zu essen, Durstigen zu trinken gegeben, Frierende bekleidet, Fremde beherbergt und Kranke und Gefangene besucht haben bzw. es nicht getan haben, und wo Jesus spricht: „Was ihr einem meiner geringsten Brüder nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.“

Liebe Gemeinde, wir Menschen beurteilen einander oft nach dem ersten Eindruck und unseren Erfahrungen. Danach wählen wir unsere Freunde aus und unsere Kontakte zu anderen Menschen. Gott aber sieht uns Menschen mit anderen Augen an: er traut uns Erneuerung zu; egal wie alt wir sind. Wir dagegen sind damit sehr zurückhaltend. Manche Psychologen sagen, schon im Alter von drei Jahren wären wir im wesentlichen geprägt und Änderungen nur noch schwer möglich. Nun es kommt immer darauf an, was wir damit meinen. Dass Erlebnisse in der frühen Kindheit einen großen Einfluss auf das ganze Leben haben können, das ist sicher richtig. Aber das heißt doch nicht, dass damit unser Lebensweg festgelegt sei. Für viele sind Erlebnisse in der Kindheit und Jugend eine Aufgabe, an der sie viele Jahre innerlich zu arbeiten haben, bis sie soweit sind, den Vater oder die Mutter innerlich zu akzeptieren oder auch sich selbst so, wie sie sind, anzunehmen und ja zu sich selbst zu sagen.

Liebe Gemeinde! Auch unter uns gibt es Menschen, die selbst im hohen Alter eine Erneuerung ihres Lebens durch den Geist Gotteserlebt haben und dies bezeugen können und bezeugen. Vielleicht können wir solche Lebenszeugnisse auch einmal in einem Gottesdienst hören. Für heute möchte ich Sie bitten, mir zu glauben, dass es dies auch noch heute und unter uns gibt. Darum sind wir Christen auch so aufgeschlossen gegenüber Menschen, denen es gerade zur Zeit offensichtlich sehr schlecht geht und die aufgrund ihrer Taten sich selbst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen haben. Darum werden in so manchen Gemeinden Päckchen für Gefangene gepackt oder auch für Kinder. Eine schöne Sitte! Denn wir wissen: Wer sich selbst durch seine Tat aus der Gemeinschaft ausgeschlossen hat, für den ist der Weg zurück zu seinen Angehörigen und in die Gesellschaft ein sehr schwieriger. Und wenn dieser Weg zurück gepflastert wird mit Bedingungen und Forderungen, dann schafft es jener Mensch in der Regel nicht, sich diesen Demütigungen zu unterwerfen.

So wie es jenen Menschen ergeht, so auch uns allen in unserem Verhältnis zu Gott. Ein guter Christ zu sein, das ist ein sehr hoher Anspruch, den wir selbst, aber auch die anderen und die Gesellschaft damit verbinden. Da könnte man gleich am besten sagen: „Das schaffe ich nie. Gott zur Ehre zu leben, das wollen wir. Aber wie oft hören wir nicht die Worte über uns oder unsere Kirche oder uns Christen heute allgemein und ganz besonders über unsere Geschichte: „Ja, und das wollen Christen sein?“

Christen, liebe Gemeinde, sind wir nicht aufgrund unserer Taten und Werke. Christen sind wir, weil wir mit dem Bad der Wiedergeburt getauft wurden und weil Jesus Christus seinen Heiligen Geist reichlich über uns ausgegossen hat. Dem Titus wurde geschrieben: „Denn auch wir waren ehemals unverständig, ungehorsam, gingen irre, dienten mancherlei Begierden und Lüsten, lebten in Bosheit und Neid dahin, verhasst, einander hassend.“9

Aber diese einander hassenden Menschen erlebten die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, die nicht nach ihren bisherigen Taten fragte, sondern nur ihre armen gequälten Herzen sah und die Angst und Verzweiflung, die auf ihnen lastete. Gott fragt nicht nach den Taten. Er hört nicht die lästernden Worte. Er sieht in unsere Herzen. Und Gott glaubt an die Erneuerung, die möglich ist dort, wo er seinen Geist ausgießt. Gott ist ein Gott, der, wie es im Psalm 90 heißt, die Menschen sterben lässt und spricht: „Kommt wieder Menschenkinder.“ Er ist der Herr über Leben und Tod. Er spricht und es geschieht. Wie sollte er dann nicht auch Macht haben, aus einem schuldbeladenen, niedergedrückten, verstockten Menschen einen fröhlichen, offenen, liebevollen zu machen?

Lasst uns seinem Wirken nicht entgegenstehen, indem wir diesem Menschen erst einmal Auflagen erteilen und sei es nur, jener Mensch müsse wenigstens zuerst einmal um Entschuldigung bitten. Es gibt Menschen, die bekommen das nicht fertig. Andern geht es wiederum so glatt über die Lippen, dass es uns nicht ehrlich erscheint. Lasst uns auf mehr achten als nur auf Worte, auch auf die Augen, die Gesten. Lasst uns nach der inneren Not fragen, die den anderen umtreibt, nach den Aufgaben, die er innerlich zu bewältigen hat, nach seinen Ängsten, seinen Hoffnungen.

Und vor allem lasst uns keinen Menschen aufgeben, egal wer er sei, wie er aussieht oder sich benimmt. Wir können uns nicht um all die tausenden Menschen kümmern und uns über sie Gedanken machen, denen wir täglich begegnen. Aber die Menschen, mit denen Gott uns konfrontiert, die lasst uns als von Gott geliebte Wesen betrachten. Jeden von uns hat Gott für das ewige Leben bestimmt. Hier auf dieser Erde sind wir wie Pflanzen in einem Saatbeet, die erst heranwachsen müssen bis sie kräftig genug sind, um auf freiem Feld allein ausgepflanzt zu werden und sich dort dann kräftig zu entwickeln. Wenn wir meinen, nur für die Stürme des Lebens müsse man stark sein, dann irren wir uns. Die schönen Tage des Lebens verlangen noch mehr innerliche Kraft von uns. Das können uns gerade auch diese Weihnachtsfeiertage wieder zeigen. So lange haben wir uns auf diese zweieinhalb Tage vorbereitet, aber wie oft erleben wir nicht auch, dass gerade in dieser Zeit Spannungen sichtbar werden und ausbrechen oder dass diese Feiertage uns langweilig erscheinen und wir am Ende froh sind, dass sie vorüber sind.

Entsprechend langweilig stellen sich manche auch das ewige Leben vor. „Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von schönen Tagen,“ sagt das Sprichwort. Damit die schönen Tage wirklich schön sind und das ewige Leben wirklich erstrebenswert ist, müssen wir Menschen erst einmal in und auf dem Saatbeet dieser Erde innerlich groß und stark werden. Das ist jetzt unsere Aufgabe. Gott aber lässt uns hier nicht allein, sondern begießt uns wie ein guter Gärtner mit dem Bad der Wiedergeburt und mit seinem Heiligen Geist und spricht mit seinen Pflanzen, so oft sie es wünschen, durch sein Wort in der Heiligen Schrift und in unseren Gottesdiensten. Wie so mancher Hobby- oder Berufsgärtner überzeugt ist, dass auch Pflanzen seine Worte hören und durch sie besser wachsen, so erst recht Gott. Er glaubt fest daran, dass wir sein Wort der Gnade hören und dadurch stark und barmherzig werden. Amen.

 


Himmlischer Vater, Du hast mich auf so wunderbare Weise beim Wort genommen und mich geprüft, ob ich nur rede oder auch tue, was ich rede, noch bevor ich geredet hatte! Das war eine Erfahrung, durch die ich gar nicht anders konnte, als offen für jenen jungen Mann und seine Situation zu sein. Viel Spannendes und Spannungreiches haben wir in der Folgezeit noch miteinander erlebt. Auch für jene Erfahrungen, die ich machen durfte, möchte ich Dir danken.

 


Anmerkungen:

4 Züricher Übersetzung

5 in: Jörg Zink, vermutlich: Wie wir beten können., S. 68; dort ist keine Quelle genannt.

7 in: Jörg Zink: Wie wir beten können, Kreuz Verlag, 2002, S. 65, in früheren Ausgaben S. 68

9 Titus 3,3