Zu den hier unter "Predigten" veröffentlichten Predigten meines Vaters Friedrich Welge:

Von meinem Vater habe ich einen etwa Schuhkarton großen Kasten mit Predigten, eng einseitig beschriebene DIN A5-Seiten, meist 5-7 Blättern. Es sind wesentlich mehr, als ich anfangs dachte. Die Handschrift ist meist sehr klein. So ergeben sie beim Abschreiben in der Regel drei DIN A4- Seiten. Die Predigten stammen zumeist aus seinen letzten Dienstjahren Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre, wobei er sie offensichtlich mehrfach gehalten hat, nach kürzerer oder längerer Zeit, also in diesen ereignisreichen Jahren wenig neue Predigten geschrieben hat. Das ist ersichtlich aus den mit verschiedenen Stiften und Schriftgrößen erfolgten Einfügungen und Durchstreichungen. 1

 

Ich selbst bin mit den Predigten meines Vaters aufgewachsen und habe also bis zum Alter von 25 Jahren bis zur Geburt unseres Sohnes im Sommer 1981 relativ regelmäßig seine Predigten gehört. Doch konnte ich mich bisher an keine erinnern, sind die hier veröffentlichten ja auch zumeist später gehalten worden, als ich aufgrund unserer kleinen Kinder die nächstliegende Kirche besuchte, die Paul-Gerhardt-Kirche im Prenzlauer Berg, und später selbst zu diesen Zeiten zu predigen hatte.

 

Im Juni 1992 wurde mein Vater 65 und in den Ruhestand verabschiedet. Im November 1992 bekam ich die Pfarrstelle in Marzahn/Nord. Dort hat er mir auch ab und zu in den ersten Jahren noch geholfen und Gottesdienste übernommen, wenn ich durch Rüstzeiten verhindert war und kein anderer konnte. Aus dieser Zeit stammen die Tonaufnahmen. Für nicht am Gottesdienst Teilnehmenkönnende wurde etliche Jahre lang jeder Gottesdienst auf Kassette aufgenommen.

 

Mein Vater hat in seinem Ruhestand viel abgeschrieben, alte Briefe, alte Dokumente, Tagebücher – aus eigenem Interesse aber auch für das Archiv des Hugenotten-Museums und seiner Heimatstadt Lage /Lippe, aber nur wenige seiner eigenen Predigten. So habe ich mir 12 Predigten – für jeden Monat eine – mal zum Geburtstag gewünscht. Anlässlich seines 80. Geburtstages 2007 habe ich diese Predigten mit Hilfe einer Freundin herausgegeben und 100 Exemplare drucken lassen. 80 davon habe ich in die Französischen Kirche gebracht, 20 extra schön binden lassen für seine Geschwister, Kinder und Enkel, die ich entsprechend beschriftet hatte und ihm zu seinem Geburtstag überreichte. Er sollte sie nur noch als Autor signieren und dann in der Verwandtschaft verteilen. Dafür hat er sich bis zum 85. Geburtstag Zeit gelassen. Er kam mit meiner Ehrung offensichtlich nicht zurecht bzw. damit, dass ich seine Predigten für würdig der Veröffentlichung hielt.

 

Bei der Übergabe an die anwesenden Familienmitglieder am 85. Geburtstag 2012 waren die Bücher angereichert durch allerlei in den Buchdeckel eingeklebte Fotos und Texte, so gleich zuerst mit dem „Versuch eines Vorwortes“, („geschrieben 2010“), der folgendermaßen beginnt:

 

„ Neulich fiel mir wieder ein, daß ich bald nach meinem ersten Examen am Beginn meiner Vikariatszeit von einem besonderen Traum 'heimgesucht' worden bin, einer Art 'Vision', die mir die Laufbahn eines erfolgreichen Predigers zu verheißen schien: Ich sprach vor einer größeren Menschenmenge und übermittelte eine Botschaft, die die Zuhörer ergriff und mich erleben ließ, daß meine Worte 'ankamen'.

Aber: Das Kinderspiel früherer Zeiten:

'Ich bin der Herr Pastor,
ich predige euch was vor,
und wenn ich nicht mehr weiter kann,
dann fange ich wieder von vorne an.'

kommt dem Alltag eines leibhaftigen Predigers gewiß näher als mein versucherisches Traumbild. Jahrzehnte meines Predigtdienstes waren allzu oft ein 'nicht mehr weiter können' und 'wieder von vorn anfangen'; hin und wieder aber auch ein 'vorpredigen', das 'ankam', weil ich selber zuerst in besonderer Weise hatte hören können.“

Zu seiner Reaktion auf die Überraschung mit den gedruckten Predigten zu seinem 80. schrieb er im Mai 2012 auf einem weiteren eingeklebten Blatt erklärend:


"Aber Fragen beunruhigten mich: Würden Auswahl und Inhalt pastoraler Äußerungen aus der Zeit vor der Wende Heutigen, zumeist Jüngeren, zugänglich sein? In der wieder vereinigten französischen Kirche sind die Jahre der Trennung und des Domaufbaues heute nur noch wenigen aus eigenem Erleben erinnerlich. Besonders aber fühlte ich mich verunsichert von der Frage, ob ich meinem Beruf als Prediger in Jahren ungewöhnlicher Gemeindesituationen gerecht geworden sein könnte.

Nach einem 5 jährigen zeitlichen Abstand bin ich ehemaliger 'Reiter über'n Bodensee' allmählich 'wieder zu mir gekommen'. War ich meiner Sache als 'Prediger' zumeist wenig sicher, bestätigt sich mir jetzt'„dies und jenes' als gültig und hilfreich. Ermutigend ist mir auch der Gedanke, dass jüngeren Lesern der Zeitgewinn dieser Jahre für die Lektüre dienlich sein könnte.

Jetzt, da mir die so lange verzögerte 'Auslieferung' der Jubelschrift an die ausgesuchten Empfänger nicht mehr schwer fällt, möchte ich Katharina von Herzen danken für die große Mühe und für die ihr abgenötigte Geduld bis zum endgültigen Gelingen ihres 'Geheimprojektes'.“

Jeder einzelnen Predigt, die ich bisher abgeschrieben habe, ist anzusehen, wie mein Vater daran gearbeitet hat, um den bestmöglichen Ausdruck dessen, was es zu sagen galt, zu finden.

Wenn ich die Predigten lese, höre ich ihn sprechen. Ein Vergleich der Tonaufnahmen aus den 90er Jahren mit dem Text zeigte, dass er die Predigt sehr wörtlich so hielt, wie sie auf dem Blatt steht. Das war ihm beim Predigen nicht anzumerken. Er wirkte eher wie einer, der frei spricht. Seine Vorbereitung, das zeigen die vielen Unterstreichungen von Wörtern wie die vielen in Anführungsstriche gesetzten Satzteile, dass er sich wohl selber schon sprechen hörte, wenn er es aufschrieb, also wusste, was er betonen wollte. So sind Anführungszeichen bei ihm vieldeutig. Nicht immer ist klar, ob er und wie lange er zitiert, meist Calvin, ohne genaue Stellenangaben, denn zur Veröffentlichung hatte er seine Vorbereitungen ja nicht gedacht. Das dies nun fehlt, mögen die Zitierten verzeihen.

Auffällig an den Predigten ist, das nur ganz selten zum Schluss ein „Amen“ steht. Der Schluss der Predigten hat ihm wohl immer besondere Probleme bereitet. Die Predigten „laufen mehr aus“ oder enden mit einer Frage, auf die man schlecht „Amen. Das ist wahr“ antworten kann. Zu sehen ist dies auch oft an der Handschrift, die dann auf einmal fahrig wirkt, wie in Eile noch hingeschrieben und schwer lesbar ist. Oft sind es dann auch nur noch Stichworte, während alles andere vorher ausformuliert ist.

Nur selten kommt in den Predigten Biographisches vor, dafür umso mehr das Interesse meines Vater als Sohn eines Maurers am Baugeschehen auf dem Gendarmenmarkt2 mit den anfangs drei Kriegsruinen Deutscher Dom, Schauspielhaus und Französischer Dom mit Französischer Kirche. 1976 wurde von der SED beschlossen alle drei Gebäude wieder aufzubauen. Der ursprünglich wohl schönste Platz Berlins gewann nach und nach so wieder Gestalt.3 Dieses Baugeschehen spiegelt sich in vielen Predigten wieder, so auch die Entdeckungen, die er dabei machte, zum Beispiel durch die Beschäftigung mit der Bedeutung der Reliefs und Figuren an den beiden „Domen“ (Türmen).

Oft beginnen die Predigten mit Alltagsbeobachtungen, wie in vereiste Scheiben der Straßenbahn eingehauchte Kucklöcher, um rechtzeitig auszusteigen. Manches davon ist wie dieses Beispiel heute Vergangenheit. Doch mit etwas Phantasie kann man dem Prediger folgen und nachempfinden, wie er durch solche Beobachtungen Zugang zu biblischen Texten fand, über die er vorhatte zu predigen. Es sind nicht immer die Texte, die uns Evangelischen für den entsprechenden Sonntag vorgeschlagen sind. Die Französische Kirche zu Berlin ist ja als Kirche der Hugenotten eine reformierte, wo man bekanntlich freier in der Textauswahl ist. Doch hat mein Vater nie, wie jene gern, ganze Predigtreihen zu einzelnen biblischen Büchern gehalten.

Auffällig ist mir, die ich weiß, wie intensiv mein Vater so lange ich ihn kannte, die Bibel im Urtext sowohl auf Hebräisch wie das neue Testament auf Griechisch gelesen hat – die „Biblia Hebraica“ und das „NT graece“ lagen immer auf seinem Couchtisch, wenn ich kam - dass er so selten auf den Wortsinn bzw. möglichen anderen Wortsinn des Textes als in der benutzten, meist Züricher Übersetzung eingegangen ist.

Zum tieferen theologischen Verständnis der Texte haben ihm vor allem die Auslegungen Calvins und der Heidelberger Katechismus wie das Genfer Bekenntnis sehr geholfen, woraus er immer wieder zitiert.

Häufig wird auch auf Theodor Fontane eingegangen, der als Hugenotten Nachfahre für die Hugenotten-Gemeinden wichtig war und den mein Vater besonders geliebt hat, für mein Gefühl damals zu viel. Doch fand ich jetzt auch Predigten, in denen er ihn kritisch sah.

Auch kommen weitere „Lesefrüchte“ meines Vaters zur Sprache: Schiller, Goethe, Nikolai Leskow u.a.. Doch überwiegen Alltagserlebnisse, die für sich genommen unspektakulär sind, aber doch helfen, biblische Texte zu verstehen.

Das Evangelium steht in allen Predigten im Mittelpunkt: Gottes „Ja“ in Jesus von Nazareth, dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn zu seiner „verlorenen Welt“ und „seinen verlorenen Menschen“. Politische Bezugnahme und Tagesereignisse sind nur sehr selten in den Predigten zu finden und dann meist am Rande, obwohl doch viele von den hier schon veröffentlichten Predigten in den Jahren vor, in und nach der „Wende“ gehalten wurden. So sind sie oft zeitlos und mal abgesehen von der anspruchsvollen Sprache vom Inhalt her immer noch sehr aktuell. Sie geben mir Kraft, stärken meinen Glauben, tun mir einfach gut und darum schreibe ich sie ab.

Zum Leben meines Vaters:

  • geboren 1927 in Lage/Lippe als zweites Kind von fünf des Maurers Albrecht Welge und seiner Frau Paula, geb. Holthöfer, die sich in der landeskirchlichen Gemeinschaft kennengelernt und dieser Bewegung, die sich „Im Gerstkamp“ sonntags nachmittags traf, ihr Leben lang verbunden waren. (Mein Opa hat dort auch selbst gepredigt, wovon einige Predigten auch erhalten sind.)

  • Mein Vater besuchte die Volksschule in Lage ab 1933, danach die neu gegründete Aufbauschule in Detmold, wo er im Internat lebte. 1944 erwarb er ein „Notabitur“.

  • Er war Mitglied der Hitlerjugend, wurde im September 1944 Luftwaffenhelfer bei Recklinghausen, kam zum RAD nach Königsberg. Ende Januar ging es von dort bei Eis und Schnee zu Fuß nach Danzig, dann per Bahn nach Linz in Österreich zur Ausbildung, dann weiter nach Döberitz bei Berlin-Spandau, wo er der Armee Wenck4 zugeteilt war.

  • Unerfahren wurde seine Trupp in einem Dorf von sowjetischen Truppen überrascht und er verwundet. Gleich mehrfach wurde in dieser Zeit sein Leben gerettet: Ein Fahrzeug nahm ihn mit und er kam ins Lazarett nach Magdeburg, wo er in russische Kriegsgefangenschaft geriet. Da seine Wunde nicht heilte, wurde er im September 1945 nach Hause in die englische Zone entlassen und dort am 15.11.1945 aus der Kriegsgefangenschaft.

  • Abitur-Übergangskurs am Leopoldinum Detmod, Zeugnis vom 25. Sept. 1946

  • Zwischenzeitlich arbeitete er auf dem Bau im Betrieb seines Vaters, den dieser von seinem Meister übernehmen musste, der nicht aus dem Krieg zurückkehrte, was bedeutete, dass er noch die Meisterprüfung machen musste.

  • Studium der Theologie ab April 1947 bis 1952 in Marburg, Heidelberg und Bethel
    (u.a. bei den Professoren Bultmann (NT), Rudolph (AT), von Campenhausen (KG), Brunner (ST))

  • 1. Theologische Prüfung in der Westfälischen Landeskirche - Urkunde vom 11. Juni 1953

  • Verlobung 1950, 1953 Heirat mit Margrit, geb. Heine, Referendarin für Deutsch und Geschichte

  • Vikariat in Eiserfeld /Siegen

  • Predigerseminar Elberfeld im Winterhalbjahr 1954/55

    Erster. viermonatiger Aufenthalt in Groß-Ziethen/ Kreis Eberswalde aufgrund des Aufrufes an Theologen und Pfarrer in den Osten zu kommen; Ablehnung der Übersiedlung durch den Bezirk Frankfurt/Oder, Rückkehr ins Predigerseminar Elberfeld (Mehr dazu siehe im Nachruf in der „Hugenottenkirche"

    1955 wird Zuzug in die DDR doch genehmigt, im September folgt unsere Mutter nach Groß-Ziethen, Kreis Eberswalde

  • 2. Theologisches Examen in der Berlin-Brandenburgischen Kirche am 8. Dez. 1955, Urkunde vom 1.7.1956, Ordination am 13.5.1956 in Groß-Ziethen zum „Hilfsprediger“

  • Geburt der drei Kinder

  • 1961- für lange Zeit letzter Besuch bei den Verwandtenin Westdeutschland

  • 1973 Wahl in die Pfarrstelle „am Französischen Dom“, Umzug nach Berlin, vorübergehende Leitung des Seniorenheimes der Gemeinde, des Dorothea-Hauses in Niederschönhausen, wo sich auch das Pfarrhaus befand

  • Er war zuständig auch für das Hugenotten-Museum der Gemeinde. Er erarbeitete zusammen mit seiner Frau und dem Graphiker Pesler die Ausstellungen zuerst für die Unterkirche, dann für die Räume im Turm, die bis vor wenigen Jahren noch zu sehen war.

  • Verabschiedung aus dem Dienst im Juni 1993

  • Ohne vorheriges Leiden ist er am 7. August 2015 im Alter von 88 Jahren morgens nicht mehr wach geworden.

Ältere Predigten sind auch noch vorhanden, allerdings hat er sie zumeist in Stenographie geschrieben, so dass ich sie - jedenfalls bisher - nicht lesen kann.

2  zu DDR-Zeiten seit 1950„Platz der Akademie“

https://de.wikipedia.org/wiki/Schauspielhaus_(Berlin)#Das_Ende_im_Zweiten_Weltkrieg

https://de.wikipedia.org/wiki/12._Armee_%28Wehrmacht%29